Mit Missing läuft gerade ein neuer Desktop-Film im Kino, der direkt an den gelungenen Vorgänger Searching von 2018 anknüpft. Ihr habt beide Filme nicht gesehen und fragt euch, was zur Hölle ein Desktop-Film sein soll? In unserem Review geben wir euch einen kleinen filmhistorischen Überblick und verraten, wieso Missing der bisher gelungenste Vertreter dieses Subgenre ist.
Moderne Kommunikation trifft auf Kino-Leinwand
Sicher haben die meisten von euch schon mal von dem Teenie-Horrorfilm „Unfriended“ (deutscher Titel „Unknown User“) von 2014 gehört. Eine Gruppe Jugendlicher unterhält sich via Skype miteinander, bis nach und nach immer mehr unheimliche Dinge passieren und unangenehme Wahrheiten ans Licht kommen.
Handlungstechnisch nicht unbedingt ein Anwärter auf den Oscar, spannend war jedoch, dass der gesamte Film nur über den Desktop der Protagonistin Blaire Lily erzählt wird. Anstatt von Filmkameras werden alle Figuren nur von ihren Webcams eingefangen und wichtige Informationen für die Handlung werden über SMS und Facebook-Nachrichten mitgeteilt. Als Zuschauender nimmt man so eine nahezu voyeuristische Perspektive ein und durchdringt den intimen virtuellen Ort einer fremden Person.
Bereits einige Jahre zuvor erschienen erste Desktop- oder auch Screen-Movies genannte Projekte, die oft mit dem „Found Footage“-Genre verglichen wurden. Mit einem Einspielergebnis von 64 Millionen bei einem Budget von 1 Millionen Dollar war Unfriended jedoch der erste Film, der auch kommerziell erfolgreich war. Produzent des Films Timur Bekmambetow, der auch später die Produktion von Searching (2018) übernahm, verfasste 2015 die drei wichtigsten Regeln für den Screenmovie: Der Ort sollte einheitlich sein, alles spielt sich auf dem Desktop einer Person ab, die Kamera imitiert Handys oder Webcams. Alles sollte wie aus einem Guss ohne Zeitsprünge wirken und alle Soundeffekte sowie Musik müssen logisch in der Welt vorkommen. So hören die Figuren beispielsweise oft Musik auf ihrem PC oder MP3-Player und die ikonischen Sounds von Skype, Discord, Factetime und co. werden eingesetzt, um das typische „das Geräusch kenn ich doch“-Gefühl zu erwecken. Wer kennt nicht die nostalgische Wärme, die einen überkommt, wenn man irgendwo das ikonische „AO“ von ICQ hört.
hört.
Nach dieser Pionierphase in den 2010er-Jahren entwickelte sich der Desktop-Film immer weiter: Während zunächst vor allem Skype als Kameraersatz genutzt wurde, kamen mit dem technologischen Fortschritt weitere Plattformen und Geräte hinzu. 2020 inszenierte der gelungene „Spree“ einen unerfolgreichen YouTuber, der irgendwann jede Grenze überschreitet, um endlich zum Star zu werden. Dafür stattet er sein Fahrzeug mit mehreren GoPros aus, um seine Spritztouren als Fahrer einer Personen-Beförderungsapp aufzuzeichnen. Und 2020 landete Regisseur Rob Savage mit dem Horrorfilm „Host“ einen Riesenerfolg, der nur mithilfe des Meeting-Programms „Zoom“ entstand. Wodurch die Dreharbeiten trotz Pandemie stattfinden konnten.
Krimi-Drama zwischen Social Media und Facetime
Mit Searching (2018) wurde das Genre unter Drehbuch und Regie von Aneesh Chaganty jedoch auf eine neue, komplexere Ebene gehoben. So nutzte der spannende Thriller eine Vielzahl von bekannten Webseiten und Programmen, bis hin zu Nachrichten-Übertragungen, die alle auf dem heimischen Computer konsumiert werden. Erstmals stand außerdem ein Familienvater im Fokus der Geschichte, dessen Tochter eines Tages vermisst wird. Da die Mühlen der Justiz zu langsam mahlen, wagt er sich in ihre Welt aus Facetime und Snapchat, um neue Hinweise zu finden. Da die Auflösung der spannend erzählten Geschichte von Searching leider enttäuschte, freute ich mich umso mehr, dass mit Missing (2023) ein neuer Thriller im selben Universum entstand.
Im Einstieg von Missing wunderte ich mich darüber, erneut das Ende von Searching mit anderen Schauspielern präsentiert zu bekommen. Plötzlich zoomte der Bildausschnitt jedoch ein Stück heraus und enthüllte, dass Protagonistin June Allen (Storm Reid) gerade die Verfilmung der damaligen Geschehnisse als Netflix-Serie schaut. Was ein cleverer Weg, um zu zeigen, dass beide Filme trotz unterschiedlicher Regie und Cast durch ihre spezielle Machart miteinander verbunden sind.
Noch davor zeigt ein altes Familienvideo jedoch die kleine June Allen, die mit ihrem liebevollen Vater spielt. Das Video wird pausiert, das uns unbekannte Ende abgeschnitten und in einen Ordner namens „Für June“ gepackt. Als nächstes sieht man Krankheitsdiagnosen und die Recherche nach einer neuen Wohnung in Los Angeles. Wem gehört dieser PC und wieso sollen wir das Ende des Videoclips nicht sehen? Was ist hier vorgefallen und wieso werden uns Informationen vorenthalten? Dieses erste Mysterium ist nur der Anfang einer Reihe an vielen spannenden Hinweishäppchen, die uns Missing immer wieder hinwirft, um erst am Ende alle Fäden zusammenzubringen. Natürlich auch, was es mit diesem ominösen Videoclip auf sich hat und die Auflösung wird euch verstören.
Was ist im Urlaub geschehen?
Während in Searching ein Familienvater seine Tochter sucht, stellt Missing das Ganze auf den Kopf: Mutter Grace Allen (Nia Long) verreist mit ihrem neuen Freund Kim nach Kolumbien. Doch als ihre Tochter sie am Flughafen abholen will, stellt sich heraus, dass sie nie in den Flieger zurück in die USA gestiegen ist. Wie Vater David Kim (John Cho) in Searching, beginnt June sofort mit ihren eigenen Recherchen. Zwar wird der Fall im Verlauf sehr bekannt und geistert durch alle Nachrichten-Sendungen, wirkliche Fortschritte werden jedoch von Seiten der Polizei kaum gemacht.
Ich betone an dieser Stelle gerne nochmal: Die gesamte Handlung wird durch den Desktop oder Bildschirme technischer Geräte erzählt. Das ist in Missing nochmal um einiges beeindruckender als in Searching, weil diesmal so viele unterschiedliche Schauplätze zum Einsatz kommen. Durch die zahlreichen Möglichkeiten der heutigen Zeit betrachten wir das Geschehen durch Handy- oder Überwachungskameras, Satellitenvideos und GoPro-Aufnahmen.
Das Überangebot an Programmen, Social-Media-Plattformen und übers Internet angebotene Services, ermöglicht dem Desktop-Film im Jahr 2023 den Zugriff auf ein sehr umfangreiches Arsenal: So kann June sehr genau nachverfolgen, welche Orte ihre Mutter im Urlaub überall besucht hat, da ihr Handy einen digitalen Fußabdruck hinterlassen hat. Auch die Live-Kameras der berühmten Sehenswürdigkeiten des Urlaubsorts, entpuppen sich als sehr hilfreich. Sie durchwühlt Messenger-Verläufe und findet dadurch Hinweise, mit denen sie endlich auf das richtige Passwort zum Google-Account ihrer Mutter kommt. Danach engagiert sie am Reiseort ihrer Mutter einen Helfer über eine kolumbianische Internetseite, der für sie vor Ort nach Hinweisen sucht, während man sieht, wie sein Honorar parallel stündlich von Junes Venmo-Account abgeht. Und was für Videos und Nachrichten hat sie eigentlich auf dem Dating-Portal mit ihrem neuen Freund Kevin ausgetauscht?
Dies ist nur ein sehr kleiner Auszug aus einer so umfangreich visualisierten Recherche, die mich immer wieder beeindruckt hat und sogar am Ende nochmal mit einem komplett unerwarteten Themenwechsel eins drauflegt.
Jede Menge Gefühl im Krimi 2.0
Aber Missing schafft es nicht nur einen visuell spannenden Thriller zu inszenieren, sondern riss mich vor allem emotional mit. Dadurch, dass man als Zuschauender fast alle gezeigten Plattformen in seinem Alltag nutzt, fühlt es sich fast so an, als würde man selbst auf dem eigenen Gerät recherchieren. Dadurch kann man sich in June viel besser hineinversetzen als in den typischen abgebrühten Protagonisten, der sonst so oft die Hauptrolle in Krimis besetzt.
Regisseure Will Merrick & Nick Johnson haben verstanden, dass auch die technologischen Stilmittel des Desktop-Films sehr gut dafür geeignet sind, um Emotionen zu vermitteln. Wenn man von Internetseiten und Handykameras liest, denkt man wahrscheinlich zunächst an kühle, distanzierte, unemotionale Geräte. Dabei ist das Gegenteil der Fall, denn besonders die Pandemie hat gezeigt, was für ein wichtiges Tor, beispielsweise in das Wohnzimmer unserer Liebsten, das Klassenzimmer oder das Home Office, technische Geräte sein können. Auch abseits davon, verschicken wir tägliche sehr persönliche Nachrichten, Fotos oder Emails.
Bevor Mutter Grace in den Urlaub geflogen ist, kriegen wir durch eben diesen digitalen Austausch mit, dass irgendwas zwischen ihr und Tochter June steht. Die Beziehung scheint zerrüttet, denn als Grace ihr vor dem Urlaub zum Abschied ein „ich liebe dich“ schickt, hält June kurz innen und reagiert lediglich mit einem „Daumen nach oben“-Emoji, anstatt den Satz zu erwidern. Und auch das vermeintlich idyllische Familien-Video im Einstieg regte mich am Ende des Films zum Nachdenken an. Denn was wir auf Videos und Fotos sehen, kann heutzutage mit nur einem Mausklick manipuliert werden. Unschöne Enden werden in Videos einfach weggeschnitten und auch der grauenvollste Mensch kann auf einem sonnigen Urlaubsfoto unheimlich sympathisch wirken.
Ein anderes Beispiel ist die digitale Beziehung von June und ihrem in Kolumbien engagierten Helfer. Beide sind etliche Kilometer voneinander entfernt, kennen sich kaum, dennoch wuchs Javier (Joaquim de Almeida) mir sofort ans Herz. Man kann ihn sehen, hören, lauscht seinen Geschichten, freut sich, dass er sich so sehr für unsere Protagonistin engagiert – ganz egal ob die Beziehung gerade nur über ein Handy und eine Service-App ermöglicht wird.
Digitale Kommunikation ist im Jahr 2023 so ein großer Bestandteil unseres Lebens, dass ich sehr hoffe, dass noch viele weitere talentierte Menschen damit herumexperimentieren. Missing ist ein unheimlich emotional technologischer Ritt, der sich genug Zeit lässt, nach und nach seine interessanten Figuren einzuführen. Erst nach und nach fügt sich das Puzzle zusammen. Nichts ist vorhersehbar, alle Auflösungen überraschend. Für mich bereits einer der besten Filme des Jahres, den ihr auf keinen Fall verpassen solltet.