Dopingverfahren in den USA: Betrug ohne erkennbare Scham (2024)

nzzas.ch

Das FBI schildert in einer Klageschrift, wie ein amerikanischer Dealer die Weltklasse-Sprinterin Blessing Okagbare und einen weiteren Sportler vor den Olympischen Spielen mit Dopingsubstanzen versorgt haben soll.

Sebastian Bräuer

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Dopingverfahren in den USA: Betrug ohne erkennbare Scham (1)

Der 17. Juni 2021 war für Blessing Okagbare ein glücklicher Tag, vielleicht einer der letzten für längere Zeit. Die Sprinterin startete an einem Meeting in Lagos, der Millionenmetropole ihres Heimatlandes Nigeria. Auf einem Video ist zu sehen, wie sie im 100-Meter-Lauf vor Kraft strotzend dem Ziel entgegen pflügte, mit kurzen Schritten und schwer rudernden Armen. Als Okagbare ihre Zeit erfuhr, 10,63 Sekunden, kugelte sie sich in ekstatischer Freude über die Bahn, während auf der Stahltribüne die Zuschauer jubelten und kreischten.

Die Leistung schien historisch. Zum damaligen Zeitpunkt war in der Geschichte des Frauensprints nur die umstrittene Weltrekordlerin Florence Griffith Joyner schneller gewesen, und Shelly-Ann Fraser-Pryce war kurz zuvor ebenfalls 10,63 gerannt. Zwar stellte sich heraus, dass in Lagos ein zu starker Rückenwind herrschte, Okagbares Leistung kam in keine Rekordliste und wurde zudem einige Wochen später von Fraser-Pryce sowie einer weiteren Athletin übertroffen. Doch die Nigerianerin gehörte an den Olympischen Spielen zu den Favoritinnen auf eine Medaille.

Bis zu zehn Jahre Haft

In Tokio endeten die Träume jedoch abrupt. Wegen eines positiven Dopingtests wurde Okagbare am Tag des 100-Meter-Halbfinals suspendiert und später für mehrere Jahre gesperrt, obwohl sie ihre Unschuld beteuerte. Bisher waren nur die technischen Fakten des Falls bekannt, doch seit dieser Woche lässt sich die Geschichte hinter dem mutmasslichen Betrug nachzeichnen.

Eine zehnseitige Klageschrift, eingereicht an einem New Yorker Gericht von der US-Bundespolizei FBI, liefert verstörende Einblicke in die Welt des Spitzensports. Sie erzählt von einer banalen Selbstverständlichkeit, mit der Akteure ohne erkennbare Scham versuchen, das Doping-Kontrollregime zu unterlaufen.

Angeklagt ist der Amerikaner Eric Lira, der sich in seinem Linkedin-Profil als Kinesiologe und Naturheilkundler bezeichnet, tätig sowohl im texanischen El Paso als auch jenseits der Grenze in Mexiko. Der 41-Jährige soll Sportler im Vorfeld der Olympischen Spiele mit illegalen Substanzen versorgt haben, die er mit falschen Etikettierungen aus Mittel- und Südamerika in die USA brachte.

Die beteiligten Sportler sind in der Klageschrift anonymisiert. Es ist jedoch davon auszugehen, dass mit «Athlete 1» Okagbare gemeint ist. Die geschilderten Fakten können kaum auf eine andere Person zutreffen als auf sie.

Einen Teil der Informationen verdankt das FBI einem Whistleblower, der vor den Olympischen Spielen Gepäckstücke aus einer Wohnung von «Athlete 2» in Florida holen sollte. Er fand dort nicht nur Koffer, sondern stiess auch auf Wachstumshormone, Insulin-Pulver und Spritzen sowie auf Liras Adresse und Telefonnummer. Später beschlagnahmten Grenzschützer Okagbares Handy, als sie aus Tokio in die USA zurückkehrte, und kopierten Text- und Sprachnachrichten. Diese zeigen, dass die Sprinterin mehr als ein halbes Jahr lang mit Lira in Kontakt stand.

Treffen die Schilderungen des FBI zu, hatte Okagbare konkrete Vorstellungen, was Lira ihr besorgen sollte. Am 8. November bat die Sprinterin ihren mutmasslichen Dealer demnach, die Website https://superhumanstore.com/ aufzurufen. Dort wäre auch an diesem Samstag noch die Bestellung etlicher Substanzen möglich gewesen, verfügbar war etwa für nur 35 Dollar das im Leistungssport verbotene Wachstumshormon Tesamorelin. Die Website wirbt damit, «Bedürfnisse zur Verbesserung des menschlichen Körpers» zu erfüllen.

Der Kontrolle entzogen

Die Beschaffung von Doping ist in den USA kinderleicht. Dealer zu beauftragen, Substanzen aus anderen Ländern einzuschmuggeln, kann dennoch hilfreich sein, weil sich so verdächtige Überweisungen vermeiden lassen.

Mehrere Male soll Okagbare in den folgenden Monaten bei Lira Substanzen bestellt haben, darunter Epo sowie einen Mix von Wachstumshormonen, die sie teilweise «Honig» nannte. Sie erkundigte sich nach den Dosierungen, auch für «Athlete 2», und Lira half laut der Klageschrift bereitwillig. Als Okagbare im April wieder einmal Mühe mit der korrekten Anwendung einer Substanz bekundete, bekam sie die Antwort: «Lass uns in ein paar Minuten ein Videogespräch machen.»

Am 13. Juni fragte sich Okagbare, ob sie in einem Test auffliegen könne. Lira beruhigte sie, die Dosis am Vortag sei gering gewesen. Doch die Sprinterin entzog sich gemäss dem Gesprächsprotokoll absichtlich den Kontrolleuren: «Ich liess sie einfach wieder gehen, es wird als verpasster Test gelten.»

Es folgte das Rennen in Lagos, von dem Okagbare ihrem mutmasslichen Helfer euphorisch Bericht erstattete. «Eric, mein Körper fühlt sich so gut an», schrieb sie. «Ich bin so glücklich. Eric. Was immer du gemacht hast, es funktioniert so gut.»

«Eric, mein Körper fühlt sich so gut an. Ich bin so glücklich. Eric. Was immer du gemacht hast, es funktioniert so gut.»

Unmittelbar vor den Olympischen Spielen befand sich Okagbare in einem Trainingslager in der Slowakei. Von dort fragte sie Lira, ob er ihr noch einen abschliessenden Tipp geben könne. Der antwortete, was sie getan habe, werde ihr bei den bevorstehenden Anlässen helfen: «Du wirst bereit sein, zu dominieren.» Just an jenem Tag gab Okagbare eine Blutprobe ab, die sich als positiv erweisen sollte.

Im angelaufenen Verfahren kommt erstmals das Rodschenkow-Gesetz zur Anwendung. Es stösst auf Kritik, weil sich die USA damit selbst die Möglichkeit zusprechen, auch im Ausland gegen Hintermänner von Dopern und Doperinnen vorzugehen (siehe Zusatztext). Ob die US-Justiz tatsächlich zu weit geht, werden erst künftige Fälle zeigen, das Vorgehen gegen den US-Bürger Lira lässt sich kaum übergriffig nennen.

Der 41-Jährige wurde am Dienstagabend in Texas festgenommen. Ihm droht eine harte Strafe, das neue Gesetz ermöglicht bis zu zehn Jahre Haft. Bei der ersten Anhörung vermied er konkrete Aussagen und erklärte, die Vorwürfe noch nicht genau zu kennen. Am 18. Januar soll darüber verhandelt werden, ob er in Untersuchungshaft bleiben muss.

Blessing Okagbare könnte nach ihrer Sperre zurückkehren. Die Zeiten, in denen ihr unvoreingenommen zugejubelt wurde, dürften jedoch unwiederbringlich vorüber sein.

USA erklären sich zum Weltgericht des Sports

Dopingverfahren in den USA: Betrug ohne erkennbare Scham (2)

Anfang 2016 flüchtete Grigori Rodschenkow, der Direktor des Moskauer Anti-Doping-Labors, in die USA. Er wurde zum Whistleblower und bestätigte, dass Russland seit Jahren systematisch Doping vertuschte.

Die USA nahmen den russischen Skandal zum Anlass, die Kompetenzen ihrer Ermittler im Anti-Doping-Kampf drastisch auszuweiten. Das nach dem Whistleblower benannte Rodschenkow-Gesetz ermöglicht diesen seit einigen Monaten, gegen Hintermänner im In- und Ausland vorzugehen, sobald Amerikaner von einem Betrugsfall betroffen sind.

Die Definition ist weit gefasst. Gestattet sind Ermittlungen im Umfeld eines gedopten Sportlers bereits, wenn dieser an einem Grossanlass US-Athleten schlug. Als Betroffene können auch amerikanische Sponsoren oder Fernsehsender gelten, falls Dopingsünder an einem internationalen Wettbewerb für geschäftsschädigende Negativschlagzeilen sorgen.

Ohne Absprachen mit etablierten Anti-Doping-Instanzen haben die USA mit dem Rodschenkow-Gesetz ihren Einfluss in der globalen Sportjustiz deutlich vergrössert. Unterstützt wurde es konträr zu den derzeitigen Gepflogenheiten parteiübergreifend von Demokraten und Republikanern.

Zunächst adressierte der Beschluss auch Hintermänner von Dopingfällen in amerikanischen Profi- und College-Ligen. In der Endfassung sind diese jedoch explizit ausgenommen. Die USA erwecken den Eindruck, den Missbrauch illegaler Substanzen durch ihre eigenen Stars weiterhin eher locker zu sehen.

Das Vorgehen versetzt die Welt-Antidoping-Agentur Wada in Aufruhr. Sie schreibt in einer Stellungnahme, bisher habe aus guten Gründen keine Nation ausserhalb ihrer Landesgrenzen wegen Dopings ermittelt. Dies sei dem Einsatz für sauberen Sport wahrscheinlich sogar abträglich, weil es Partnerschaften zwischen Ländern gefährde. Es senke auch die Wahrscheinlichkeit, von Whistleblowern zu profitieren, weil sich diese nun vor Strafverfolgung fürchten müssten.

Bisher besitzt mit dem in Lausanne sitzenden Internationalen Sportgerichtshof TAS eine nichtstaatliche Instanz die alleinige Befugnis, in sportrechtlichen Streitfällen letztinstanzlich zu entscheiden. Das TAS wird immer wieder für seine vermeintliche Nähe zum Internationalen Olympischen Komitee kritisiert, doch es steht im Ruf, keinesfalls ein Land zu bevorteilen oder zu benachteiligen. Das Rodschenkow-Gesetz ist eine Attacke auf die Institution. Amerikanische Juristen könnten versuchen, dem TAS nach und nach die Macht zu entreissen.

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